Mentales Üben
1. Was ist Mentales Üben?
1.1 Die mentale Vorstellung
1.2 Ursprung des Mentalen Trainings und Definition
1.3 Wirkungsweise des mentalen Trainings
1.4 Einstieg ins Mentale Üben
1.5 Kombination von mentalem und realem Üben
2. Grundlagen effektiven Lernens
2.1 Optimaler Spannungszustand des Körpers
2.2 Lernen und Gedächtnis
2.2.1 Kognitives Lernen – Bewusstmachen einzelner Elemente
2.2.2 Verarbeitungstiefe – Ansprechen unterschiedlicher Gedächtnisarten
2.2.3 “Rotierende Aufmerksamkeit” – Konzentration auf einen Parameter
3. Mentales Erarbeiten eines Musikstückes
3.1 Bewegungs- und Klangvorstellung
Exkurs: Bewegungsvorstellung in der Sportpsychologie
3.1.1 Subvokales Üben oder Memorieren von Gitarrenwerken
3.1.2 Ideomotorisches Üben
3.1.3 Verdecktes Wahrnehmungstraining
3.1.1.1 Subvokales Üben bei einstimmiger Musik
3.1.1.2 Subvokales Üben bei komplexeren Musikstücken
3.1.1.3 Knotenpunkte oder die mentale Vorstellung bei schnellem Tempo
3.2 Musiktheoretische Analyse
3.3 Visualisierung des Notentextes
3.4 Ablauf des Stückes
3.5 Interpretation des Werkes
(c) Melanie Häckel 2006
„Es war einmal …
… eine Frau, die immer das Ende vom Braten abschnitt, bevor sie ihn in den Topf gab. Jemand fragte sie, warum sie das machte. Sie sagte: ‘Ich weiß es nicht. Meine Mutter hat’s immer so gemacht’. Und man fragte ihre Mutter und die sagte: ‘Ich weiß es nicht, meine Mutter hat es immer so gemacht.’ Und man fragte die Großmutter, und die sagte: ‘Nun, ich hab’s damals so gemacht, damit der Braten in meinen größten Topf passt.’“
Al Huang, Tao-Wetter 1
1. WAS IST MENTALES ÜBEN?
1.1 DIE MENTALE VORSTELLUNG
„Ein Bekannter beschrieb einmal, wie [Glenn] Gould vor einem Konzert in seiner Garderobe auf und ab ging und dabei eine Melodie summte, mit seiner Nase dirigierte und auf imaginären Tasten spielte.“ (2)
Diese Erzählung schildert einen Weltklassemusiker, der mental übt. Der berühmte Pianist Gould übte nach eigenen Angaben nicht nur vor Konzerten, sondern auch im Alltagsleben beim Autofahren oder Spazierengehen sehr viel im Kopf. (3) Nicht jedem, der mental übt, sieht man dies auf den ersten Blick in seinen Gesten so an, wie in diesem Fall. Das Üben geht hauptsächlich im Kopf vor sich.
Welche Gründe haben herausragende Musikerpersönlichkeiten, diese Übemethode zu nutzen? Vielleicht verdeutlicht das ein weiteres Beispiel:
„Auch Arthur Rubinstein berichtet, er habe sich die Variations symphoniques, ein Werk für Klavier und Orchester von César Franck, während einer langen Busfahrt auf dem Weg nach Madrid anhand der Noten erarbeitet, die günstigsten Fingersätze zurechtgelegt und schwierige Passagen durchprobiert, um das Werk direkt nach seiner Ankunft aus dem Gedächtnis zu spielen.“ (4)
Dieser beeindruckende Bericht verrät, dass Wartezeiten sinnvoll genutzt werden können, in denen kein Instrument zur Verfügung steht. Außerdem können auch Krankheitszeiten, insbesondere bei musikerspezifischen Überlastungsbeschwerden wie Sehnenscheidenentzündungen, genutzt werden, um zu üben. Angesichts der erschreckenden Tatsache, dass einer Umfrage zufolge 74 Prozent von professionellen Gitarristen unter Schmerzen leiden, die auf das Üben am Instrument zurückzuführen sind, (5) stellt das mentale Üben eine sinnvolle Ergänzung zum körperlichen Üben dar.
Selbst wenn noch (!) keine gesundheitlichen Probleme im Zusammenhang mit dem Musizieren aufgetreten sind, ist das mentale Üben als vorbeugende Maßnahme zu empfehlen, da keine Sehnen oder Gelenke belastet werden.
Das mentale Üben bringt aber noch weitere Vorteile mit sich:
Die Pianistin Tatjana Orloff-Tschekorsky berichtet davon, dass sich die Übezeit bei ihren Schülern dadurch auf die Hälfte, teilweise bis auf ein Viertel verkürzt hat. Bei ihr als professionelle Spielerin hat sich die Zeit zum Einstudieren von Musikliteratur sogar auf ein Zehntel verringert! (6) Das mentale Üben ist in der Tat eine sehr effektive Methode, die allerdings hohe Konzentration fordert.
Obwohl auch mit Noten mental geübt werden kann, stellt das mentale Üben eine hervorragende Methode zum Auswendiglernen von musikalischen Werken dar. Das Bewusstmachen einzelner Bewegungsanteile unterstützt den Lernprozess, hilft aber auch, eingeschliffene Fehler zu berichtigen. Mentales Üben ist, besonders wenn auswendig gespielt wird, als Diagnosemethode für potentielle Fehlerquellen beim Auftritt geeignet. Durch gezieltes Arbeiten an so gefundenen Schwachstellen lässt sich die Gewissheit gewinnen, das Stück in allen Details zu beherrschen. Diese Sicherheit schafft Selbstvertrauen und ist damit ein guter Ausgangspunkt, um mit Lampenfieber positiver umgehen zu können.
Die Methode des mentalen Übens findet nicht nur unter Musikern Anwendung.
Mentales Üben wurde, lange bevor es in Musikerkreisen bekannt wurde, von Profisportlern verwendet, um die Technik zu perfektionieren, den Körper zu schonen und um dem psychischen Wettkampfdruck besser standhalten zu können. Der gegenüber mentalen Techniken skeptische Trainer Ed Boyd, der Turnerinnen an der Universität von Oregon trainierte, wollte diese Technik testen: Eine junge Turnerin sollte eine neue schwierige Aufgabe allein durch Visualisieren, also durch die mentale Vorstellung, erlernen.
„Ed Boyd war ob des unerwarteten Trainingserfolges so erschrocken, dass er in der Folgezeit auf weitere Experimente mit Visualisationstechniken verzichtete – ganz so, als hätte er eine gespenstische, gruselige, grauenvolle Begegnung mit einem Phänomen aus einer anderen Welt gehabt. Die Sache erschien ihm nicht geheuer.“ (7)
Die Techniken des mentalen Übens im Sport können auf die Bedürfnisse des Musikers übertragen werden. Letztendlich bedeutet das Lernen eines Musikinstrumentes nichts anderes, als die Feinmotorik zu trainieren. Selbstverständlich kommt beim Musizieren noch die Klangvorstellung hinzu. Aber das motorische Lernen bleibt denselben Regeln unterworfen, ob im Sport oder in der Musik.
Zum Schluss noch eine ganz andere Geschichte, die durchaus in unsere Thematik passt:
„Auch das Allroundgenie Leonardo da Vinci – er war Maler, Bildhauer, Architekt, Naturforscher und Techniker zugleich – besaß ein ungeheueres bildliches Vorstellungsvermögen. Einmal erhielt er von dem Abt eines Klosters den Auftrag, das Abendmahl zu zeichnen – heute eines der berühmtesten Gemälde, die es gibt. Als er nach einer Woche noch immer keinen Pinselstrich getan hatte, sondern nur vor dem leeren Blatt saß, wollte ihm der entsetzte Abt den Auftrag wieder entziehen. Da malte der Künstler in wenigen Stunden das fertige Bildnis, das er in seiner Phantasie längst vollendet vor sich gesehen hatte.“ (8)
Diese Erzählung beschreibt genau das, was wir mit mentalem Üben erreichen wollen:
Das Ziel ist, dass der Künstler jedes Detail seines Werkes vor Augen und Ohren hat und sich das Werk als Ganzes bzw. die Ausführung dessen innerlich vorstellen kann.
Wenn ein Konzertprogramm so sicher im Kopf abgespeichert ist, ist es geradezu eine logische Folge, dass es auf der Bühne ebenso sicher präsentiert werden kann. [ … ]
Fußnoten: 1) V. Biesenbender: Aufforderung zum Tanz, S. 9 2) R. Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn, S. 285 3 R. Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn, S. 285 4) A. Rubinstein: Mein glückliches Leben, Frankfurt am Main 1980, S. 255f, zit. in: R. Klöppel: Mentales Training für Musiker, S. 11 5) W. Ostermeier: Körperübungen (nicht nur) für Gitarristen, in Ü&M 02/02, S. 51 6) I. Sonnenschein: Mentales Training in der Instrumentalausbildung, in: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 37. Jg. 1990, S. 2357 K.-W. Reinhardt: Mentales Sporttraining, S. 89 7) K.-W. Reinhardt: Mentales Sporttraining, S. 89 8) R. Geisselhart; M. Zerbst: Das perfekte Gedächtnis, S. 33f LITERATURVERZEICHNIS: Altenmüller, Eckart: Hand-Wunder – Vom Spitzgriff zur Liszt-Sonate, in: Musikphysiologie und Musikermedizin 2001, 8. Jg., Nr.4, S. 139-158 Baumann, Sigurd: Psychologie im Sport, 2. überarbeitete Neuauflage 1998, Meyer Verlag, Aachen 1998 Biesenbender, Volker: Aufforderung zum Tanz oder Was hat klassische Musik eigentlich mit Improvisieren zu tun?, HBS Nepumuk, Aarau 2005 Bruhn, Herbert; Oerter, Rolf; Rösing, Helmut: Musikpsychologie, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 1993 Burzik, Andreas: Üben im Flow – das Geheimnis der Meister, in: Musikphysiologie und Musikermedizin 2002, 9. Jg., Nr. 3, S. 112-122 Carlevaro, Abel: Schule der Gitarre. Darstellung der Instrumentalen Theorie (Übersetzung: Rüdiger Scherping), Chanterelle Verlag, Deutschland 1998 Dorsch, Friedrich: Psychologisches Wörterbuch, Hrsg. Häcker, Hartmut O. Stapf, Kurt-H., Verlag Hans Huber, 14. Auflage 2004, Bern Eberspächer, Hans: Mentales Training, 6. aktualisierte und überarbeitete Auflage 2004, Copress Verlag, München 1990 Gabler, Hartmut; Nitsch, Jürgen R.; Singer, Roland: Einführung in die Sportpsychologie. 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(c) Melanie Häckel 2006